Neue Herausforderer in Europa: Ein Blick zurück auf die IAA 2025 – und warum etablierte OEM in die Defensive geraten
- Wolfgang A. Haggenmüller
- 3. Okt.
- 5 Min. Lesezeit

Die IAA Mobility 2025 in München hat deutlich gemacht: Der Automobilmarkt in Europa befindet sich nicht länger in einem klassischen Schachspiel zwischen bekannten Big-Playern – neue Herausforderer drängen massiv herein. Während BMW, Mercedes, Volkswagen & Co ihre bekannten Modelle weiterentwickeln, nutzten chinesische, türkische und andere Hersteller die Bühne, um ihre Europa-Ambitionen unübersehbar zu inszenieren. Dieser Artikel analysiert, welche neuen Marken und Modelle sich konkret in Europa positionieren, wie ihre Strategien aussehen, und ob sie tatsächlich eine Relevanz gegenüber etablierten OEM gewinnen können.
Einige dieser Newcomer haben das Potenzial, mit aggressiven Kosten-, Technologie- und Vertriebsmodellen echte Marktanteile zu erobern – klassische Marken werden sich künftig stärker über Effizienz und Kundenbindung definieren müssen. Diskussion ist ausdrücklich erwünscht – wer gewinnt, wer verliert?
IAA 2025: Was zeigte die „alte Garde“ – und wo blieb Raum?
Die etablierten OEM nutzten die IAA, um ihre Elektrooffensiven zu bekräftigen:
BMW präsentierte den neuen iX3 als erstes Fahrzeug der „Neue Klasse“-Reihe: mit Bi-Directional Charging und Neuerungen in Bedienung und Digitaltechnik. BMW Group PressClub
Mercedes-Benz enthüllte erstmals den vollelektrischen GLC als Lückenschluss im Portfolio. Mercedes-Benz Group
Volkswagen setzte auf Konzepte wie den ID. CROSS und kündigte eine „Electric Urban Car Family“ an. Volkswagen Newsroom+1
Opel führte mit dem Corsa GSE Vision Gran Turismo und dem Mokka GSE neue Elektrovarianten ein. Stellantis Media
Renault zeigte u.a. die neue Clio-Generation mit Hybridtechnik. IAA MOBILITY
Diese Neuheiten betonen: Die etablierte Garde will nicht abgehängt werden – aber sie reagiert oft defensiv, mit Konsolidierung und Portfolioanpassungen.
Gleichzeitig zeigte die Messe einen starken Auslandsdruck: 57 % der Aussteller kamen zur IAA 2025 aus dem Ausland, und über 40 % waren erstmalige Teilnehmer. VDA Presse wie Reuters titelte: „It’s Europe vs China“ – chinesische OEMs drängen ins “Heilige Land” der europäischen Automobilindustrie. Reuters
Doch welche neuen Player konkret?
Neue OEM in Europa: Wer betritt die Bühne?
Die folgenden Hersteller oder Marken haben in München konkret Europa-Ambitionen angekündigt oder neue Modelle vorgestellt, die sich gezielt an den europäischen Markt wenden:

(Datenstand: Ankündigungen auf der IAA 2025 oder offiziellen Presseinformationen)
Ein paar Erläuterungen:
GAC / Aion: Der Aion V wird in Europa zu einem Preis ab ca. €35.990 angeboten. electrive.com GAC betont das Motto „In Europe, for Europe“. MediaConnect+1 Der Plan: Zunächst in Märkten wie Polen, Portugal, Finnland starten, bis 2028 vollständige EU-Abdeckung erreichen. electrive.com+1
Togg: Der SUV T10X und die Limousine T10F sollen erstmals in Deutschland angeboten werden. Eine Anzahlung von 1.000 € startet Bestellungen per App („Trumore“). electrive.com+1 Togg braucht laut Reuters forciert den Sprung ins Ausland, denn das heimische Absatzpotenzial alleine reicht nicht zur Profitabilität. Reuters
Leapmotor: Die Partnerschaft mit Stellantis öffnet Türen für Fertigung und Vertriebsinfrastruktur in Europa. Wikipedia+1
BYD setzt neu stärker auf Plug-in-Hybrid als Brückentechnologie (z. B. Seal 6 Touring) angesichts möglicher EU-Importzölle auf reine EVs. Frost & Sullivan+2S&P Global+2

Strategien & Erfolgschancen der Newcomer – und warum etablierte Marken nicht automatisch siegen
Strategien im Überblick
Analysieren wir, mit welchen strategischen Hebeln diese neuen Herausforderer agieren:
„Cost-Plus / aggressive Preispositionierung“
Viele chinesische OEM haben geringere Fixkosten, niedrigere Margen und können durch vertikale Integration günstigere Bauteile (z. B. Batterien) liefern. Sie zielen oft auf Preisvorteile gegenüber europäischen Pendants. SpGlobal etwa spricht davon, dass der Preiswettbewerb etablierte OEM zunehmend unter Druck setzt. S&P Global
Lokalisierung – „In Europa, für Europa“
GAC betont explizit, seine Produkte auf europäische Bedürfnisse zuzuschneiden („In Europe, for Europe“). MediaConnect In der Praxis bedeutet das: Teilelager, After-Sales-Strukturen, u.U. Produktionsansiedlung in EU-Ländern (um Zölle zu vermeiden). Financial Times+1
Modulare Plattformen & flexible Technologien
Viele neue Marken setzen auf skalierbare Plattformen, die verschiedene Karosserievarianten ermöglichen: SUV, Crossover, Limousine auf derselben Basis. Das senkt Entwicklungskosten.
Direktvertrieb / digitales Ordering
Togg ist ein Vorreiter: Bestellung über App, Anzahlung, eigener Liefervorgang. Klassische Händlerketten werden dadurch umgangen. electrive.com
Brückenlösungen & Hybride als taktischer Zwischenschritt
BYD führt in Europa neue PHEV-Modelle ein, um EU-Impfungen auf reine BEVs bei Importen zu vermeiden. Frost & Sullivan+2S&P Global+2
Branding, Design und Emotionalisierung
Marken wie Avatr, Linktour oder Togg setzen auf Lifestyle, Digitalisierung und User Experience statt nur technische Daten. Das dient der Abhebung in einem ansonsten datengetriebenen Markt.
Erfolgsaussichten im Vergleich zu etablierten OEM
Stärken der Newcomer:
Kosten- und Margenflexibilität: Neue OEM haben weniger Altlasten (z. B. aus Verbrenner-Ära), günstige Lieferketten und Zugang zu preiswerten Batterien.
Innovationsdruck & Agilität: Schnellere Entscheidungswege, Fokus auf Software, Over-the-Air-Updates, Integration neuer Funktionen.
Markt-Edge durch Differenzierung: Zum Beispiel außergewöhnliches Preis-Leistungs-Verhältnis oder fokussiertes Nischenangebot (z. B. Stadt-EV, Lifestyle-Marken).
Digitale Vertriebsmodelle: Reduzierte Kosten für Händlerstrukturen, geringerer Overhead.
Risiken und Herausforderungen:
Markenvertrauen & After-Sales: In Europa ist Vertrauen in Service, Ersatzteile und Qualität entscheidend. Viele neue OEM haben noch kein Vertrauen aufgebaut.
Importzölle & regulatorische Risiken: Die EU hat bereits Anti-Subventionszölle auf chinesische EVs verhängt, wodurch Importkosten deutlich steigen. Financial Times
Skalierung & Kapitalbedarf: Wachstum erfordert große Investitionen in Fertigung, Logistik, Garantie- und Servicenetz.
Wettbewerb & Gegenmaßnahmen etablierter OEM: Europäische Hersteller können mit Skaleneffekten, etablierter Markenbekanntheit und tieferem Händlernetz kämpfen.
Marktrisiken & politische Gegenreaktionen: Nationalistische Tendenzen könnten protektionistische Maßnahmen begünstigen.
Kurz gesagt: Nur wer bei Positionierung, Service und Kostenstrukturen clever operiert, kann tatsächlich dauerhaft bestehen.
Wer hat die besten Chancen?
Unter den Newcomern sind aus meiner Sicht GAC / Aion und Togg besonders interessant:
GAC / Aion hat mit dem Aion V einen realistischen Einstiegspreis, europäische Service-Strukturen in Vorbereitung, und eine ehrgeizige Markteintrittsstrategie. PR Newswire+3electrive.com+3MediaConnect+3
Togg als türkischer Hersteller bringt Vorteile: Nähe zur EU, politische Unterstützung, niedrige Arbeitskosten und bereits markterprobte Modelle (T10X). Der Einstieg über Deutschland könnte Referenzcharakter haben. Reuters+2Autoweek+2
Leapmotor profitiert durch die Partnerschaft mit Stellantis – der Zugang zu Fertigungs- und Vertriebsinfrastruktur gibt einen strategischen Vorteil gegenüber unabhängigen Startups.
BYD wird weiterhin eine Rolle spielen – auch mit Hybridlösungen, allerdings mit wachsender Spannung durch Zölle.
Linktour ist ein Nischenplayer – in Mikro- oder City-Segmenten kann er Aufmerksamkeit gewinnen, aber kaum Volumen aufbauen.
Die etablierten Hersteller werden sich neu erfinden müssen – der Wettbewerb wird sich verschärfen, und wer sich zu langsam bewegt, verliert Marktanteile.
Handlungsempfehlungen & strategische Implikationen für Zulieferer
Für Automobilzulieferer, Entscheidungsträger und OEM-Führungskräfte ergeben sich daraus wichtige Konsequenzen:
Frühzeitige Kooperationen: Neue Hersteller suchen Partner – Komponenten, Module, Software-Lösungen. Wer früh an Bord ist, sichert sich Marktanteile.
Modularisierung & Plattformbau: Zulieferer müssen modulare Lösungen anbieten, die in viele Plattformen integrierbar sind.
After-Sales-Infrastruktur: Werkstattlösungen, Serviceverträge und Ersatzteilnetzwerke werden entscheidend – hier entstehen neue Umsatzpotenziale.
Lokalisierung beachten: Mit Importzöllen im Blick ist lokale Fertigung ein strategischer Hebel – Zulieferer in Europa können profitieren.
Software- und OTA-Kompetenz: Schwergewichte im Automobilbereich verlieren Marktanteile, wenn sie nicht in Software und Updates investieren.
Risikoabwägung & Diversifikation: Nicht alle Newcomer werden überleben – Partnerschaften müssen mit Exit-Strategien abgesichert sein.
Schlussbetrachtung
Die IAA 2025 markiert den Beginn einer Ära, in der der Automobilmarkt in Europa nicht mehr von ein paar etablierten Konzernen dominiert wird. Neue OEM mit schlankeren Strukturen, aggressiver Preisstrategie und digitalem Vertriebsmodell haben eine echte Chance, sich Marktanteile zu sichern – insbesondere in den Segementen unterhalb der Premiumklasse. Etablierte Marken müssen sich neu definieren: nicht mehr nur Qualität & Marke, sondern Effizienz, Kundenerlebnis und Software-Fähigkeit werden über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Ich bin überzeugt: In zehn Jahren gehören mindestens zwei der neuen Herausforderer (etwa GAC oder Togg) zur Top-10 der meistverkauften Marken in mindestens einem EU-Land. Wer das als Fantasie abtut, unterschätzt die Geschwindigkeit, mit der sich die Automobilwelt wandelt.
Ich freue mich auf Ihre Einschätzungen: Welche Newcomer haben aus Ihrer Sicht die besten Karten – und wo wird sich der Wettbewerb am schärfsten formieren?
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