Zeitenwende Defence: Wie die Verteidigungsindustrie vom Rand ins Zentrum rückt
- Wolfgang A. Haggenmüller

- 17. Okt.
- 6 Min. Lesezeit

Verteidigung war lange ein Randthema – für viele Branchen, für Investoren und für die öffentliche Wahrnehmung. Konflikte schienen fern, die Prioritäten lagen auf Wirtschaft, Klima, Mobilität. Doch seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, verschobenen geopolitischen Blöcken und wachsender Unsicherheit steht fest: Die Bedrohung ist näher, nicht abstrakt. Damit rückt auch die Verteidigungsindustrie in den Fokus von Regierungen, Unternehmen, Kapitalgebern und Arbeitskräften.
Mehr Geld, mehr Politik – die neuen Rahmenbedingungen
Deutschland: Das Sondervermögen Bundeswehr & Verteidigungsausgaben
Deutschland hat 2022 ein Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro beschlossen, das über eine eigene Kreditermächtigung verfügt und vom Bundeshaushalt getrennt verwaltet wird. Zweck: Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit. Bundesregierung+1
Es wird verfassungsrechtlich gesichert durch Änderung des Artikels 87a GG. Bundesregierung+1
Für 2025 sind die Verteidigungsausgaben Deutschlands mit rund 86,49 Milliarden Euro geplant. Davon entfallen etwa 62,43 Mrd. Euro auf den regulären Wehrhaushalt und 24,06 Mrd. Euro aus dem Sondervermögen. Gegenüber 2024 eine Steigerung um insgesamt etwa 14,74 Mrd. Euro. Deutscher Bundestag
Trotz dieser Steigerung wird das NATO-Ziel von dauerhaft mindestens 2 % des BIP für Verteidigung laut Studien noch nicht erreicht. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft rechnet für 2022–2023 mit einer Lücke von knapp 18 Mrd. Euro, und ohne höhere Budgets über das Sondervermögen hinaus bleibt auch für 2026 ff. eine Lücke prognostiziert. FAZ.NET+1
EU & NATO: Gemeinsame Strategien und Programme
Die EU hat vielfältige Instrumente geschaffen:
ReArm Europe / Bereitschaft 2030: Ein Plan, der zusätzliche Verteidigungsausgaben von bis zu 800 Mrd. Euro ermöglichen soll. Rat der Europäischen Union+1
SAFE („Security Measures for Europe“): Ein EU-Instrument, das 150 Mrd. Euro an Darlehen vorsieht, um Mitgliedstaaten bei der Beschaffung und beim Ausbau der Verteidigungsindustrie zu unterstützen. Rat der Europäischen Union+1
EDIP (European Defence Industry Programme): Bis Ende 2027 sind 1,5 Mrd. Euro als Finanzhilfen für Projekte der Verteidigungsindustrie vorgesehen. Rat der Europäischen Union+1
Weitere Mittel für gemeinsame Beschaffung, Förderung der Munitionsproduktion, Forschung und Entwicklung. Rat der Europäischen Union+2Rat der Europäischen Union+2
Die Verteidigungsausgaben der EU-Mitgliedstaaten stiegen 2024 auf etwa 343 Mrd. Euro, mit einer Schätzung für 2025 von 381 Mrd. Euro. Das sind Zuwächse von +19 % zu 2023 und +37 % zu 2021. Rat der Europäischen Union+1
Automotive & Zulieferindustrie: Krise trifft Gelegenheit
Wo steht die Automobilbranche
Die Automobilindustrie und ihre Zulieferer stehen unter Druck: sinkende Nachfrage, steigende Kosten, Umstellung auf Elektromobilität und Software-getriebene Komponenten. Margenverfall, Arbeitsplatzabbau sind an der Tagesordnung. Mehrere Zulieferer melden Sparprogramme, Abteilungen werden geschlossen. Deloitte+2HNA.de+2
Gleichzeitig: Rüstungsunternehmen haben volle Auftragsbücher, Nachfrage boomt. Ein Beispiel: der Wehrtechnik-Konzern Hensoldt hat einen Rekord-Auftragsbestand von etwa 6,5 Mrd. Euro. Financial Times
Erste Reaktionen & Umstellungen
Übernahmen und Wechsel: Einige Automobilzulieferer-Mitarbeiter sind von Rüstungskonzernen übernommen worden oder wechseln in diese Bereiche. Beispiel: Continental-Bremsenwerk in Niedersachsen – etwa 100 Mitarbeitende wurden von Rheinmetall angeboten, in eine Munitionsfabrik zu wechseln. Hensoldt plant, Beschäftigte von Continental und Bosch zu übernehmen. SWR+1
Umstellung von Produktionslinien: Rheinmetall erwägt, zivile Werke Bestandteil ihrer Konzernstruktur in Rüstungsproduktion umzuwandeln. Z. B. Werke, die bislang Komponenten für Fahrzeuge fertigten, könnten künftig militärische Komponenten herstellen. imi-online.de+1
Mittelständische Zulieferer sehen Chancen: Laut einer Studie von Roland Berger (Deutschland, Österreich, Schweiz) sehen über 75 % der mittelständischen Zulieferunternehmen eine Diversifizierung in Richtung Verteidigungsindustrie als Priorität. Kompetenzen wie präzise Fertigung, Qualitätsstandards, Serienproduktion kommen ihnen zugute. Presseportal

Start-ups und Tech-Unternehmen
ARX Robotics: Das Start-up hat unter anderem autonome Mini-Panzer an die Ukraine geliefert und wird im Kontext von DefenceTech häufig als Beispiel genannt. ZDF
Quantum Systems, Helsing, etc.: Diese Technologieunternehmen setzen neue Maßstäbe, z. B. in KI, Drohnen, der Vernetzung von Sensorsystemen. HNA.de
Start-up-Beschaffung und Regulierungsprobleme: Viele junge Firmen beklagen hohe regulatorische Hürden, langsame Beschaffungsprozesse, fehlendes Risikokapital, mangelnde Wertschätzung. In einer Bitkom-Umfrage unter DefenceTech-Start-ups gaben 59 % an, dass sie sich bei einer erneuten Gründung für einen anderen Standort entscheiden würden. founders Magazin
Chancen & Barrieren: Wer gewinnt, wer muss aufpassen

Einige markante Zitate & Cases
„Aktuell bietet das Freiwerden von Ressourcen im Automobil- und Automobilzulieferbereich in Deutschland besondere Chancen, Rüstungskapazitäten gerade im Bereich größerer Serien schnell hochzufahren. Das Motto könne lauten: ‚Autos zu Rüstung‘!“— Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. imi-online.de
„Wir stoßen mit Palladion neue Türen auf, gehen neue Wege und beweisen, dass DefenceTech-Start-ups nicht nur mit großen Herstellern konkurrieren, sondern auch einen großen Unterschied machen für die Verteidigungsfähigkeit.“— Christian Hösle, Leiter von Palladion (Bundeswehr-Accelerator) ZDF
„Die Bundeswehr beschafft nicht immer, was auf dem modernen Gefechtsfeld funktioniert, sondern was Jahre zuvor geplant wurde. Dieser Prozess stammt aus Friedenszeiten, in denen die Technologiezyklen Jahrzehnte betragen haben. Heutzutage sind das Wochen.“— Marc Wietfeld, ARX Robotics. ZDF
„91 Prozent der Führungskräfte fordern eine schnellere Beschaffung“ – aus der Studie „Defense Insider Priorities“ von Horváth. Horváth Management Consultants
Die Top-Unternehmen der Branche

Top 20 in der DACH-Region

Backlog & Intake
Backlog Auftragsbestand = langfristige Sichtbarkeit (Planung, Stabilität).
Intake Auftragseingang = kurzfristige Dynamik (Wachstum, Marktchancen).
📌 Backlog (Auftragsbestand)
Definition: Der Auftragsbestand umfasst alle bereits unterschriebenen Verträge/Aufträge, die ein Unternehmen in den kommenden Jahren noch erfüllen muss.
Beispiel: Wenn Rheinmetall Panzer für 5 Milliarden Euro liefern soll, die Auslieferung aber über 5 Jahre gestreckt ist, erscheint dieser Betrag im Backlog.
Bedeutung:
Zeigt die Planungssicherheit für ein Unternehmen.
Signalisiert Investoren und Zulieferern, wie stabil und ausgelastet das Geschäft ist.
Ein hoher Backlog = volle Auftragsbücher, selbst wenn der Umsatz im laufenden Jahr noch nicht hoch ist.
📌 Intake (Auftragseingang)
Definition: Der Auftragseingang bezeichnet die neuen Aufträge, die in einem bestimmten Zeitraum (meist im Geschäftsjahr) hereingekommen sind.
Beispiel: Hensoldt meldet 2024 einen Auftragseingang von 2,9 Milliarden Euro für Radarsysteme und Sensoren.
Bedeutung:
Gibt einen aktuellen Trend wieder: Steigt der Auftragseingang, ist die Nachfrage stark.
Ein hoher Intake im Verhältnis zum Umsatz zeigt: Das Unternehmen wächst.
Fällt der Intake deutlich ab, kann das auf weniger Nachfrage oder Verzögerungen bei Ausschreibungen hindeuten.
📊 Zusammenspiel von Backlog & Intake
Backlog = langfristige Sichtbarkeit (Planung, Stabilität).
Intake = kurzfristige Dynamik (Wachstum, Marktchancen).
Ein Unternehmen kann z. B. einen riesigen Backlog haben (große Projekte über 10 Jahre), aber nur einen moderaten Intake im letzten Jahr (weil neue Projekte erst ausgeschrieben werden müssen). Umgekehrt kann ein junges Unternehmen einen sehr dynamischen Intake melden, aber noch keinen riesigen Backlog.

Wie kann man an die Finanzmittel kommen – Bedingungen und Mechanismen
Damit Unternehmen oder Start-ups erfolgreich an die neuen Mittel gelangen, sind mehrere Hebel wichtig:
Kenntnis der Förderprogramme und Ausschreibungsmechanismen
Unternehmen müssen verstehen, wie EU-Instrumente wie SAFE, EDIP, gemeinsame Beschaffung, Munitionsförderung funktionieren. Anträge müssen formale Anforderungen erfüllen und oft sind Konsortien bzw. Partnerschaften erwünscht.
Kapazitäten & technische/gesetzliche Voraussetzungen
Wer Teile für Verteidigungsprojekte liefern will, braucht Zertifizierungen, Sicherheitsüberprüfungen (z. B. Geheimschutz, verlässliche Lieferketten), Produktionsstandorte, oft Serienfertigung. Standards und Qualitätssicherung sind entscheidend.
Finanzielle Stärke und Planungssicherheit
Projekte im Defence-Bereich haben häufig lange Vorlaufzeiten. Investitionen müssen vorgestreckt werden – in Maschinen, Personal, Infrastruktur. Wer nicht über Kapital oder gute Finanzierungspartner verfügt, läuft Gefahr, zwar erste Angebote zu machen, aber bei Umsetzung zu scheitern.
Netzwerk & politische/administrative Nähe
Kontakte zur Bundeswehr, zum Verteidigungsministerium, EU-Behörden helfen. Teilnahmen an Acceleratoren (z. B. Palladion), Kooperationen mit etablierten Rüstungskonzernen können Türen öffnen.
Risikomanagement und ESG-Bewusstsein
Investoren und Partner schauen zunehmend auf Nachhaltigkeit, menschenrechtliche Verantwortung, Reputation. Unternehmen müssen transparent sein, wie ihre Produkte genutzt werden. Dual-Use kann hilfreich sein (wenn zivile Anwendungen zugleich bestehen).
Resümee: Zwischen Aufbruch und Stolpersteinen
Es besteht eine echte Zeitenwende: Finanzmittel, politischer Wille und Bedrohungswahrnehmung haben sich grundlegend verändert. Verteidigung ist kein Nischenthema mehr.
Für Unternehmen, die ihre Kompetenzen in präziser Fertigung, Elektronik, Sensorik, KI etc. haben, entstehen neue Marktchancen – insbesondere für Zulieferer und Start-ups.
Aber: der Weg ist nicht einfach. Die Wechselkosten sind hoch. Produktionsumstellungen, rechtliche und sicherheitstechnische Anforderungen, lange Genehmigungs- und Beschaffungszeiten, hohe Anfangsinvestitionen – all das kann Bremsspur sein.
Zudem ist das Risiko, dass Gelder ineffizient verwendet werden, zu hoch. Wenn politische Versprechen nicht in langfristige Haushaltsplanung übergehen (z. B. über das Sondervermögen hinaus), drohen Lücken. Das Zwei-Prozent-Ziel der NATO zeigt, dass ohne Verstetigung der Budgets das Momentum verloren gehen kann. FAZ.NET
Auch gesellschaftlich / reputativ gilt: Wer in Rüstung investiert, muss sich auf Debatten einstellen – moralische Fragen, Exportethik, Dual-Use, Risiken des Missbrauchs. Transparenz und Regulierung werden zentral sein.

Polarisierende Einschätzung
Wer nicht auf Defence setzt, könnte in der industriellen Transformation als Verlierer dastehen. Unternehmen und Regionen, die zögerlich bleiben – aus Imageangst, weil „Rüstung = Schmutz“, oder mangels Risikobereitschaft – riskieren, ihre Kapazitäten und Talente zu verlieren. Wer aber bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, kann durch Innovation, Geschwindigkeit und Partnerschaften ein starkes neues Momentum gewinnen.
Und gleichzeitig:
Es besteht die Gefahr, dass Defence zum „Refugium für Krisengewinner“ wird: Unternehmen, die aus anderen Bereichen herausfallen (z. B. Autozulieferer) und sich in Rüstung retten wollen, treiben Preise hoch, senken Standards oder übersehen langfristige ethische Kosten. Es könnte zu einer Überdehnung in kurzfristigen Opportunitäten kommen, ohne nachhaltige Strategie.
Fazit
Die Verteidigungsindustrie ist heute weit mehr als ein Randbereich – sie ist Teil strategischer Industriestrategien, Teil von Modernisierungsprogrammen, Teil geopolitischer Sicherheit & Teil wirtschaftlicher Transformation. Gleichzeitig sind Aufwand und Risiko groß: Kapital, Zeit, regulatorische Anforderungen & öffentliche Akzeptanz sind keine kleinen Hürden.
Für Entscheider in Mobilitätsbranche, Tech, Zulieferindustrie und in Forschungseinrichtungen heißt das:
prüfen, ob vorhandene Kompetenzen nutzbar sind für Defence,
in Partnerschaften investieren,
frühzeitig die Förderlandschaft und den Beschaffungsprozess verstehen,
strategische Pläne für mindestens 5–10 Jahre entwickeln und Budgets sichern.
Call to Action
Wie sehen Sie das?
Wird Ihr Unternehmen zukünftig im Verteidigungsbereich aktiv sein – oder befürchten Sie die Risiken überwiegen die Chancen?
Welche Bedingungen müssten dafür erfüllt sein, damit Sie mitmachen? (z. B. stabile Auftragslage, klare gesetzliche Rahmenbedingungen, Transparenz, ethische Regeln)
Und: Wie sollte die Politik Ihrer Meinung nach sicherstellen, dass Gelder, Innovationen und Kapazitäten effizient und verantwortungsvoll eingesetzt werden?
Ich freue mich auf Ihre Einschätzungen, Perspektiven und konkrete Erfahrungen – lassen Sie uns gemeinsam diese Zeitenwende betrachten und diskutieren.




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